Humberto Rivas: Fotograf der Stille

Über die enge Verbindung zwischen Fotografie und Tod ist viel gesagt worden. Das Klicken der Kamera ist tödlich, weil es die Koordinaten des Lebens, die Entwicklung von Zeit und Raum, zum Stillstand bringt. Seltsamerweise bewirken die Fotografien in dieser dem Tod gewidmeten Ausstellung das Gegenteil: Indem sie dem Tod den Tod bringen, beleben sie das Tote.
— Dieses Zitat der Philosophin Nelly Schnaith bezieht sich auf die Serie "Huellas que nos miran" des argentinischen Fotografen Humberto Rivas

Humberto Rivas wurde 1937 in Buenos Aires geboren.

Obwohl seine Eltern aus der Arbeiterklasse stammten und nicht künstlerisch tätig waren, zeigte Rivas schon früh großes Interesse an der Kunst. Zunächst musste er jedoch dem Beispiel seiner Eltern folgen und begann im Alter von 14 Jahren in einer Textilfabrik zu arbeiten. 1951, im Alter von 17 Jahren, konnte er endlich seinen Traum verwirklichen und ein Leben als Künstler führen.

Er begann, Malerei und Zeichnen zu studieren und bekam kurz darauf seine erste Kamera, eine 35mm Argus mit fester Optik.

1959 schrieb sich Rivas an der Schule der Schönen Künste in Buenos Aires ein und hatte im selben Jahr seine erste Einzelausstellung in der Galería Galatea. Neben seinem Studium arbeitete er als Assistent in einer Werbeagentur, wo er sich Kenntnisse im Grafikdesign aneignete. Während dieser Zeit war er von kreativen Menschen aus verschiedenen Kunstbereichen umgeben und lernte von ihnen. Dies weckte sein Interesse für alle Kunstgattungen, insbesondere für Film und Malerei, die für die Entwicklung seines fotografischen Stils von Bedeutung waren.

1960 beschloss Rivas, sich ganz der Fotografie zu widmen, und wurde Fotograf des neu gegründeten Instituto Di Tella.

Dieser Schritt verschaffte ihm besseren Zugang zu Kameraausrüstung, und nach der Schließung des Instituts 1968 eröffnete er ein Studio für kommerzielle Fotografie.

Flucht und Exil

Kurz nach dem Militärputsch 1976 verließ Rivas Argentinien und ging nach Barcelona, Spanien. Diese Flucht vor der politischen Unsicherheit in seinem Heimatland spiegelt sich in der Leere und Abwesenheit menschlicher Präsenz in vielen seiner späteren Arbeiten wider.

Rivas' Schwarz-Weiß-Fotografien schaffen eine Atmosphäre der Strenge, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Künstlerische Entwicklung und Wirkung

Rivas konzentrierte sich zunächst auf das Genre der Porträtfotografie.

Zu den Fotografen, die ihn am meisten beeinflusst haben, gehören Richard Avedon, Alfred Stieglitz und Henri Cartier-Bresson.

Rivas' Fotografien mögen auf den ersten Blick trivial erscheinen, doch bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich als durchdachte Kompositionen scheinbar zufälliger Szenen und Situationen.

Er arrangiert seine Szenen nicht, er inszeniert nichts. Er passt sich dem Sujet an und schneidet ein kleines Stück Wirklichkeit heraus, das er durch seine individuelle Perspektive in ein Kunstwerk verwandelt.

Die Spuren der Zeit

Ein zentrales Thema im Werk von Humberto Rivas ist die Zeit und die Spuren, die sie in unserer Umgebung hinterlässt.

Seine Fotografien zeigen Häuser, Möbel, Mauern und Landschaften als stumme Zeugen der Vergangenheit.

Diese auf den ersten Blick unscheinbaren Objekte tragen die Geschichten der Menschen in sich, die einst in ihnen lebten. Rivas fängt diese Momente ein und lässt die Vergangenheit durch seine Bilder wieder aufleben.

Seine Fotos zeichnen sich durch große Einfachheit und das Fehlen menschlicher Präsenz aus. Sie zeigen scheinbar unbewohnte Räume und verlassene Szenen. Es gibt keine Inszenierung. Obwohl Menschen auf den Bildern fehlen, verweisen alle Gegenstände auf Leben und zeigen, dass die Orte bewohnt waren.

Die Gegenstände und Szenen erwachen im Auge des Betrachters zum Leben und sprechen mit einer leisen Stimme zu ihm – als wollten sie sagen:

Eine Sache ist das, was wir sehen, und eine andere Sache ist, wie wir uns dazu verhalten und fühlen. Man muss sich von seinem eigenen Instinkt mitreißen lassen.

Humberto Rivas drückt mit seinen Bildern aus, was er für wichtig hält, um es zu beobachten oder festzuhalten – in seinem Fall sind es Szenen, die auf den ersten Blick nicht viel Aufmerksamkeit erregen, aber hinter dem Sichtbaren liegt etwas Geheimnisvolles, das über die Ikonizität des Fotografierten hinausgeht.

Die Wirklichkeit der Fotografie

Rivas' Fotografien stellen die Frage nach der Realität von Bildern.

Was sie zeigen, ist nicht unbedingt "real", und sie repräsentieren auch nicht die eine Wahrheit.

Die Interpretation liegt beim Betrachter, denn ein Foto zeigt und verweist auf Dinge, aber es erklärt sie nicht.

Humberto Rivas verzichtet bewusst auf Inszenierung und persönliche Stellungnahme, um dem Betrachter die Freiheit zu lassen, seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

In der Literatur über das Wesen der Fotografie wird das Fotografieren oft mit einem Akt des Tötens verglichen. Mit dem Drücken des Auslösers "tötet" der Fotograf das Abgebildete, er friert es ein und hält es jenseits seiner physischen Existenz fest.

Nur für einen kurzen Moment besteht eine Koexistenz zwischen dem Bild und dem Abgebildeten; nur für den kurzen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde, in dem das von der Szene reflektierte Licht in die Kamera eintritt und auf den Sensor trifft. Danach besteht eine zeitliche und räumliche Distanz zwischen dem Objekt und dem Foto.

Wer mehr über das Wesen der Fotografie erfahren möchte, sollte das Buch "Der fotografische Akt"* von Philippe Dubois lesen.

Oder das, was der französische Philosoph Roland Barthes in seinem Buch “Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie“* "noema" nennt – das Wesen der Fotografie.

Das Bild beweist, dass die Referenz da war: "Im Foto kann ich nie leugnen, dass das Ding da war", sagt Roland Barthes.

Es geht um die Beziehung zwischen Realität und Vergangenheit.

Das Foto bezeugt die Existenz von etwas und bewahrt es im Gedächtnis, "die Wiederkehr der Toten", wie die Philosophin Nelly Schnait einmal über die Fotografien von Humberto Rivas sagte: "Indem er die Toten tötet, gibt er den Toten Leben.”

Ein Blick auf "London 1978”

Ein eindrucksvolles Beispiel für Rivas' Kunst ist das Foto "London 1978".

Es zeigt einen fast leeren Raum mit nur drei Stühlen und kahlen Wänden.

Trotz seiner Schlichtheit wirft das Bild viele Fragen auf:

  • "Was ist aus den Menschen geworden, die dort einmal gelebt haben?"

  • "Warum haben sie ihr Haus verlassen und die Stühle zurückgelassen?"

Diese Fragen und die Hinweise, die die Atmosphäre des Bildes gibt, lassen den Betrachter eine Geschichte erahnen, die über die Grenzen des Bildes hinausgeht.

Das Erbe von Humberto Rivas

Das Werk von Humberto Rivas ist mehr als nur Fotografie, es ist eine tiefgründige Reflexion über Zeit, Erinnerung und die Spuren der Vergangenheit. Seine Fotografien besitzen eine geheimnisvolle Kraft, die unter die Oberfläche der Dinge dringt und den Betrachter in ihren Bann zieht.

Humberto Rivas starb 2009, aber seine Bilder leben weiter und laden uns ein, die Geschichten der Vergangenheit durch die stillen Zeugen der Gegenwart zu entdecken.

Mehr über Humberto Rivas

Weitere Informationen über Humberto Rivas und sein beeindruckendes Werk findest du auf der offiziellen Website “Archivo Humberto Rivas.

Einen tieferen Einblick in sein Werk bieten auch die folgenden Bücher:

Die Fotografien von Humberto Rivas sind Fenster in die Vergangenheit, die uns einladen, die Spuren der Zeit zu erkunden und die Geschichten zu entdecken, die sich hinter den stillen Objekten verbergen.

Das könnte dich auch interessieren


Sketchnotes

Du möchtest regelmäßig Tipps erhalten, wie du visuelles Storytelling gezielt in deiner Street- und Reportagefotografie einsetzen kannst?

Dann abonniere unsere “Sketchnotes”.

Wie der Name schon sagt: Es sind Notizen aus unserer Praxis, die dir helfen, ein besserer visueller Geschichtenerzähler zu werden. Ob Interviews, Buchbesprechungen oder Einblicke in unsere Projekte und neue Workshop-Termine: Der “Sketchnotes”-Newsletter liefert dir kreative Impulse und Motivation, die Welt mit der Kamera zu entdecken.

Und nicht nur das.

Wenn ein neuer Blog-Artikel erscheint, erfährst du das natürlich auch automatisch.


Unterstützung für “Abenteuer Reportagefotografie

*Bei einigen der Links auf dieser Website handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Wenn du die verlinkten Produkte kaufst, nachdem du auf den Link geklickt hast, erhalte ich eine kleine Provision direkt vom Händler dafür. Du zahlst bei deinem Einkauf nicht mehr als sonst, hilfst mir aber dabei, diese Webseite für dich weiter zu betreiben. Ich freue mich, wenn ich dir Inspiration für deine Kamera-Abenteuer biete. Falls du Danke sagen möchtest, kannst du mir per PayPal eine Spende zukommen lassen. Oder du schaust auf meiner Amazon-Wunschliste vorbei. Dort habe ich Dinge hinterlegt, mit denen du mir eine Riesenfreude machen würdest.Eine Herzlichen Dank für deine Unterstützung!

Kai Behrmann

Hallo, ich bin Kai. Fotografie bedeutet für mich erleben. Es geht nicht nur um das Einfrieren eines Moments, sondern darum, ihn zunächst aktiv zu spüren. Und zwar mit allen Sinnen. Erst dann kommt die Kamera ins Spiel.

https://www.kaibehrmann.net/
Weiter
Weiter

Luc Kordas: “New York Unseen”