Du kennst das bestimmt auch: Nach einem langen Tag auf den Straßen, nach stundenlangen Streifzügen durch Gassen und über Plätze, kommst du müde, aber auch erwartungsfroh mit deiner Kamera nach Hause. Die Speicherkarte ist voll mit den flüchtigen Momenten des Alltags, die du eingefangen hast – Gesichter, Schatten, Szenen, die so schnell verschwinden, wie sie auftauchen. Der Adrenalinrausch der Straßenfotografie oder einer Reportage hat dich durch den Tag getragen, doch jetzt, vor deinem Computer, stellst du dir die Frage: “Was mache ich jetzt mit all diesen Bildern?”
Als Fotograf ist das Fotografieren eine Sache. Aber das, was danach kommt – das Auswählen, Bearbeiten und Kuratieren – war lange Zeit eine ganz andere und für mich oft die schwierigere Aufgabe.
Das wurde mir erst kürzlich wieder bewusst, als ich mich an die Bearbeitung der Bilder meiner letzten Reise nach Argentinien machte. Mit großer Begeisterung hatte ich zu Beginn des Jahres 2024 ein Projekt über die Fankultur im Land des amtierenden Fußballweltmeisters begonnen. In Buenos Aires besuchte ich mehrere Spiele und fotografierte sowohl vor den Stadien als auch während der Spiele. Seit meiner Rückkehr im März 2024 habe ich nur selten in den Lightroom-Katalog mit den Bildern geschaut. Einmal habe ich ein paar für eine Präsentation bearbeitet - das war’s.
Jetzt bin ich fest entschlossen, die Aufgabe nicht nur anzugehen, sondern diesmal auch zu Ende zu bringen.
Letztes Wochenende habe ich es geschafft, die Bilder vom Spiel Huracán vs. San Lorenzo fertig zu bearbeiten.
Die Spitze des Eisbergs
Dabei sind die Bilder aus Argentinien nur ein Beispiel. Der Stau in meinem Archiv reicht gut zwei, drei Jahre zurück.
Ich liebe das Gefühl, mich einfach treiben zu lassen, durch den Sucher meiner Kamera zu schauen und den Moment einzufangen.
Das ist für mich meist aufregend und befriedigend genug.
Was danach folgt, hat mir lange weniger Spaß gemacht.
Es war nicht nur die schiere Menge an Bildern, die mich überwältigte, sondern auch die Unsicherheit, welche Bilder wirklich stark waren und welche ich getrost hätte aussortieren können. Die Qual der Wahl führte schließlich dazu, dass ich die Entscheidungen immer öfter aufschob – mit der Konsequenz, dass mein Bildarchiv immer weiter wuchs und damit im gleichen Maße meine Herausforderung im effektiven Umgang mit meinen Fotos.
Ich saß oft vor Lightroom, starrte meine Bilder an – und konnte mich doch nicht entscheiden.
Das Bearbeiten fühlte sich mehr nach Arbeit als nach einem kreativen Prozess an. Es war schwer, etwas zu lieben, bei dem ich mich nicht sicher fühlte und für das ich keinen klaren Plan & konkrete Kriterien hatte.
Der Wendepunkt: Als das Bearbeiten plötzlich Spaß machte
Der Wandel kam, als ich anfing, das Editieren meiner Streetfotografie mit einer neuen Perspektive anzugehen.
Ich erkannte, dass die Arbeit am Computer nicht einfach nur ein notwendiges Übel ist, sondern eine ebenso wichtige kreative Aufgabe wie das Fotografieren selbst.
Anfangs war ich, wie du vielleicht auch, ein ziemlicher Chaot, wenn es darum ging, meine Bilder zu organisieren und die besten auszuwählen. Doch dann begann ich, diesen Teil meiner Arbeit ebenso ernst zu nehmen wie das Fotografieren selbst.
Das bewusste Editieren nach klaren Kriterien und mit System gab mir die Chance, die besten Momente des Tages noch einmal zu durchleben und mit Ruhe und Bedacht auszuwählen, welche Bilder wirklich eine Geschichte erzählen.
Ich konnte in Ruhe Szenen vergleichen, kleine Nuancen entdecken und meine Kompositionen neu bewerten, ohne den Druck des Augenblicks. Diese Zeit, die ich mir für die Auswahl meiner Bilder nahm, gab mir die Möglichkeit, meine Fehler zu erkennen und daraus zu lernen.
Doch es ging um mehr als nur darum, gute Bilder zu finden.
Ich erkannte, wie ich durch das Bearbeiten meiner Bilder eine zusammenhängende Serie oder eine visuelle Erzählung erschaffen konnte. Der Gedanke, dass meine Bilder nicht nur einzeln, sondern auch im Zusammenspiel stark sein konnten, veränderte meine Herangehensweise.
Fortan fing ich an, nicht nur zu fotografieren, sondern auch mit einer klaren Vorstellung davon, wie die Bilder am Ende zusammenpassen könnten.
Diese Vision beeinflusste wiederum meine Art zu fotografieren.
Ohne dabei Spontanität und Intuition zu vernächlässigen, begann ich, das Editiing schon während des Fotografierens im Hinterkopf zu haben und bewusster nach Szenen zu suchen, die sich ergänzen könnten.
Der kreative Prozess des Editierens als Schlüssel zum Erfolg
Dieser neue Ansatz bei der Arbeit mit dem eigenen Portfolio machte das Editieren meiner Bilder zu einem wichtigen und kreativen Teil meiner Arbeit als Streetfotograf. Ich empfinde ihn nun nicht länger als mühsame Pflicht, sondern als ein Moment der Reflexion, der mir die Tür zu neuen Perspektiven liefert.
Durch das bewusste Editieren meiner Bilder entdeckte ich, wie ich meine Fotografie nicht nur verbessern, sondern auch völlig neue Wege finden konnte, um meine Arbeiten zu präsentieren – sei es in Form von gedruckten Serien, Ausstellungen oder Online-Galerien.
In Zeiten, in denen ich nicht auf der Straße bin, um neue Bilder zu machen, bietet mir die Beschäftigung mit meinem Portfolio die Möglichkeit, mit alten Projekten zu arbeiten und sie mit frischen Augen zu betrachten.
Das bringt nicht nur neue Inspiration, sondern hilft mir auch, ein tieferes Verständnis für meine eigene Arbeit zu entwickeln.
Fünf praktische Tipps, wie du zu einem besseren Editor deiner Streetfotos wirst
Setze klare Ziele für deine Fotowalks
Überlege dir vor jedem Fotowalk, was du erreichen möchtest. Diese Zielsetzung hilft dir später beim Editieren, die besten Aufnahmen zu identifizieren, die deine Vision widerspiegeln. Vergiss aber auch nicht, offen für Zufälle zu bleiben. Deine Intuition ist nach wie vor wichtig. Vielmehr geht es um ein sich wechselseitig befruchtendes Wechselspiel.
Organisiere deine Bilder direkt nach dem Fotowalk
Nutze Programme wie Lightroom oder CaptureOne, um deine Bilder unmittelbar nach deiner Rückkehr an deinen Schreibtisch zu sortieren. Eine strukturierte Ablage erleichtert das spätere Bearbeiten und verhindert, dass du den Überblick verlierst. Wenn du gar nicht weißt, wo du deine Bilder überall hin verstreut hast, hast du noch weniger Lust, dich mit ihnen zu beschäftigen. Mit dem Editieren kannst du dir indes ruhig Zeit lassen.
Sei gnadenlos beim Aussortieren
Lerne, deine Bilder kritisch zu betrachten und streng auszusortieren. Nicht jedes Bild verdient es, in deinem Portfolio zu bleiben. Konzentriere dich auf die Bilder, die wirklich eine Geschichte erzählen oder starke Emotionen wecken. Entwickle klare Kriterien, nach denen du vorgehst. Wenn du dir nicht sicher bist, frage Freunde und Kollegen, deren Meinung du schätzt und die etwas von (deiner) Fotografie verstehen. Manchmal dauert es eine Weile, bis du Bilder verstehst und schätzt. Ein sehr guter Ratgeber zu diesem Thema ist das Buch “Eins reicht: Fotos gezielt auswählen und präsentieren”* von Sebastian H. Schroeder.
Lass deine Bilder ruhen, bevor du sie bearbeitest
Gib dir selbst etwas Abstand, bevor du mit dem Editieren beginnst. Dieser Abstand hilft dir, deine Aufnahmen mit einem frischen und objektiveren Blick zu sehen und bessere Entscheidungen zu treffen.
Betrachte das Editieren als Teil des kreativen Prozesses
Sieh das Editieren nicht als Last, sondern als eine weitere Möglichkeit, deine kreative Vision zu verwirklichen. Experimentiere mit verschiedenen Bearbeitungen, kombiniere Bilder zu Serien oder erarbeite Themen, die sich durch mehrere Aufnahmen ziehen.
Weitere Informationen
Im Kurs „Umgang mit dem eigenen Portfolio“ geht es um die Frage, wie die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern dir helfen kann, eine bessere Fotograf*in zu werden, deinen persönlichen Bildstil zu entwickeln und zu schärfen und schließlich deinem „Warum“ in der Fotografie auf die Spur zu kommen.
Die Antwort auf diese Fragen sind sehr individuell und deswegen gibt es hier auch kein Patentrezept.
Ich möchte dir daher vor allem dabei helfen, dir die richtigen Fragen zu stellen, damit du zu deinem eigenen „Warum“ gelangst.
*Als Teilnehmer von “Abenteuer Reportagefotografie” hast du in den Paketen “Heldenreise” und “Ruf des Abenteuers” freien Zugriff auf den Videokurs.
Unterstützung für “Abenteuer Reportagefotografie
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Mit den Teilnehmer:innen der Visual Storytelling Akademie von “Abenteuer Reportagefotografie” veranstalten wir regelmäßige Bildbesprechungen bei Zoom.
Dabei bekommst du konstruktives Feedback zu deinen eingereichten Street-Bildern und lernst aus den Diskussionen mit den anderen.